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Der (Rechts-) Weg ist das Ziel – Stuttgart 21 Gegner im Irrgarten der Justiz

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von Wolfgang Hänisch

Am 21.10.2014 schreibt das Polizeipräsidium Stuttgart an das hiesige Verwaltungsgericht: "Die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme des Klägers am 1.2.2011 wird anerkannt."

Der lange Weg bis zu diesem Eingeständnis soll hier gegangen werden und wir beginnen mit dem Prolog:

Was geschah am 1.2.2011 zwischen 6.30 Uhr und 8 Uhr am Stuttgarter Hauptbahnhof?

Version 1 :
„Gegen 6.30 Uhr versammelten sich ca. 35 Menschen vor dem Bautor am Nordflügel des Bahnhofs, um gegen die zu dieser Zeit stattfindenden Abrissmaßnahmen zu protestieren. Um 7.10 Uhr fuhren vier Baufahrzeuge und ein Kamerafahrzeug der Polizei an die Versammlung heran. Um 7.20 Uhr trafen mehrere Wannen der Polizei ein. Sofort bildeten Polizeibeamte zwei Ketten links und rechts der Demonstration. Wir verließen gemeinsam den Versammlungsort,obwohl bis zu diesem Zeitpunkt weder die Versammlung aufgelöst noch Platzverweise ausgesprochen waren.“

Hier differiert Version 2, die Polizeiversion, stark :
„Vier Fahrzeuge wurden an der Einfahrt in die Baustelle gehindert. Daher lag gegen die Kläger der Anfangsverdacht einer Nötigung vor. Zum Zwecke der Strafverfolgung wurden die Personalien der Kläger festgestellt und Anzeigen gefertigt. Anschließend erhielten die Betroffenen, insgesamt 16 Personen, einen mündlichen Platzverweis für den Kurt-Georg Kiesinger-Platz sowie die Straße Am Schlossgarten. Diese Maßnahme beanstanden die Kläger nicht.“

Das Problem für die Betroffenen war, dass man nur Maßnahmen beanstanden kann, die auch tatsächlich stattgefunden haben. In der Realität jenes kalten Februarmorgens 2011 fand am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz aber weder eine Personalienfeststellung statt, noch wurden Anzeigen gefertigt, noch wurden mündliche Platzverweise erteilt, denn … siehe Version 1.

Bei dem Bemühen ihre Version aufrecht zu erhalten, schreckten in der Folge Polizei und Regierungspräsidium vor fast gar nichts zurück: So zauberten sie einen „Vorkommnisbericht des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 1.2.2011“ aus dem Zylinder, in dem akribisch festgehalten wird, was sich nie ereignet hatte.

Einer Beweismittelfälschung kommt dieses Verfahren erheblich nahe.

Das dämmerte offensichtlich auch dem Regierungspräsidium, zumal es eingestehen musste, dass „die Aufnahme der Personalien, die Erteilung des Platzverweises usw. filmisch nicht belegt sind“ und „die Namen der Beamten der Bereitschaftspolizei Lahr, die an der Personalienfeststellung, der Belehrung sowie dem Platzverweis beteiligt waren, (…) nicht im Einzelnen aufgezeichnet (sind).“

Schade nur, dass es ein Formular mit dem schönen Titel „Belehrung von zur Identitätsfeststellung festgehaltenen Verdächtigen“ gibt, auf dem neben Dienststelle und Vorgangsnummer natürlich auch Namen und Dienstgrad der belehrenden Beamten verzeichnet werden müssen.

Ein solches Formular bekamen unsre S-21 Gegner denn auch ausgehändigt, als zwei Stunden später am Grundwassermanagement (GWM) ihre Personalien dann tatsächlich aufgenommen wurden und sie nach zweistündigem Aufenthalt im Polizeikessel bei klirrender Kälte gegen 10 Uhr zu Wasenwache chauffiert und in Gewahrsam genommen wurden.

Dort versuchen die Beamten um 10.11 Uhr vergeblich, den zuständigen Richter am Amtsgericht Brost zu erreichen, der aber „erst zu den Bürozeiten entscheiden könne.“ Ihm werden wir später noch einmal begegnen.

Um 13.30 Uhr wird schließlich Richter Gauch erreicht, der „keine freiheitsbeschränkende Maßnahme“ anordnet, allerdings auch keinen der Betroffenen anhört.

Um 14.30 Uhr werden die S21-Gegner dann aus dem Gewahrsam entlassen.

Ende des Prologs.

Vorhang auf, das Spiel beginnt!

Unsre S21-Gegner wollen sich mit dem Geschehen nicht abfinden und beantragen die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Gewahrsamnahme.

Sie tun das beim Amtsgericht Stuttgart am 25.2.2011. Am 4.4.2011 beschließt das Amtsgericht Stuttgart in Gestalt des Richters Brost (wir erinnern uns : Der Richter, der nur zu den Bürozeiten entscheiden kann) die Verweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht Stuttgart.

Am 5.8.2011, also vier Monate später, beschließt die 5.Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart, vertreten durch den Richter Sohler (auch ihm werden wir wieder begegnen) dann endlich die Weiterführung des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht, legt den Streitwert auf 5000 € fest und kassiert von jedem der fünf Kläger 363 € Prozesskosten, obwohl es um ein und denselben Sachverhalt geht.

Dann geschieht lange nichts, jedenfalls nichts substantielles: Es wird z.B. darüber gestritten, ob das Innenministerium oder das Regierungspräsidium zuständig ist.

Die Klageschrift vom 25.2. bzw. 4.4.2011 wird dem schlussendlich zuständigen Regierungspräsidium schließlich fünf Monate später am 2.9.2011 vom Gericht zugestellt.

Am 26.10.2011 trudelt dann der Antrag auf Klageabweisung vom Regierungspräsidium ein. Wieder sind zwei Monate ins Land gegangen.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2012.
Am 16.5.2012 erwägt das Verwaltungsgericht die Aussetzung des Verfahrens wegen der bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart anhängigen Ermittlungsverfahren gegen die Kläger. Dem treten die Kläger entgegen. Daraufhin versinkt das Verwaltungsgericht ein halbes Jahr lang in tiefes Schweigen, das erst am 11.12.2012 gebrochen wird: Auf Nachfrage nach dem Fortgang des Verfahrens, erklärt Richter Sohler, dass, „wegen noch älterer bei der Kammer anhängiger Klageverfahren (…) gegenwärtig noch nicht genau vorhersehbar (ist), wann über die Klage entschieden wird.“ Ob das Verfahren jetzt ausgesetzt ist oder nicht, erfahren die Kläger nicht.

Jetzt schreiben wir das Jahr 2013.
Am 24.10 2013 fragt das Verwaltungsgericht bei der Staatsanwaltschaft nach, ob die Ermittlungsverfahren gegen die Kläger schon abgeschlossen sind.

Zu diesem Zeitpunkt sind die Verfahren schon mindestens seit einem Vierteljahr eingestellt, wie die Kläger zufällig durch eine Nachfrage beim Datenschutzbeauftragten des LKA am 18.7. 2013 erfahren. Froh gestimmt, da jetzt der letzte Vorwand, das Verfahren zu verzögern, weggefallen ist, begehen die Kläger den Jahreswechsel 2013/2014.

Das neue Jahr ist noch jung, da überrascht die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts die Kläger mit der Mitteilung, dass die sie beabsichtige „das Klageverfahren mangels Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (…) an das Amtsgericht Stuttgart zurück zu geben.“ Fassungslosigkeit macht sich breit und tatsächlich erhalten die Kläger am 1.4.2014 (kein Aprilscherz!) die Mitteilung, dass das Verwaltungsgericht beschlossen hat, den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig zu erklären. Beschlossen hat das wohlgemerkt dieselbe Kammer, der Richter Sohler angehört, welcher seit drei (!) Jahren das Verfahren als Berichterstatter durchführt – mehr oder weniger durchführt, wie wir gesehen haben.

Und der Beschluss hat es in sich, da ist die Rede von „schwerwiegender Rechtsverletzung“, „rechtsfehlerhafter Darlegung“, „objektiver Willkür“ - was zumindest sprachlich Unsinn ist, denn das Wesen der Willkür ist subjektiv. Er gipfelt in der Aussage: „Der Beschluss ( des Amtsgerichts Stuttgart) entzieht dem Kläger den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und ist daher nicht haltbar.“

Drei Jahre wurde unseren Klägern ein Grundrecht verweigert – und keiner hat's gemerkt !

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts auf jenem nicht stattgefundenen Vorgang beruht, den wir im Prolog geschildert haben: Der fiktiven Personalienfeststellung, Belehrung und Platzverweiserteilung am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz. Denn die polizeiliche Maßnahme am GWM diente danach allein Strafverfolgungszwecken, war also repressiver Natur. Und dafür sei das Amtsgericht zuständig. Hätte die polizeiliche Maßnahme aber der präventiven Gefahrenabwehr gedient, wäre das Verwaltungsgericht zuständig.

Und wie unterscheidet man jetzt letztendlich die Funktion der polizeilichen Maßnahme ? „Für die Abgrenzung der gesamten Aufgabengebiete ist darüber hinaus maßgebend, wie sich der konkrete Sachverhalt einem verständigen Bürger in der Lage der Betroffenen bei natürlicher Betrachtungsweise darstellt.“ Was muss der „verständige Bürger“ denn verstehen, um nicht zu einer widernatürlichen Betrachtungsweise zu kommen? Und hat sich nicht die 5.Kammer des Verwaltungsgerichts der Beihilfe zum Rechtsbruch schuldig gemacht, indem sie drei Jahre lang ein Verfahren betrieben hat, von dem sie jetzt behauptet, dass es den Verstoß gegen das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter zur Grundlage hatte? Und warum hat es die Kammer trotz Einwendungen der Kläger unterlassen, eben jenen Vorgang umfassend aufzuklären, den sie jetzt zum wesentlichen Ausgangspunkt ihres Beschlusses macht ?

Fragen über Fragen.

Jedenfalls erklärt die 5.Kammer den Verwaltungsrechtweg für unzulässig, legt den Rechtsstreit aber dem Bundesverwaltungsgericht vor zur Bestimmung des zuständigen Gerichts. Dieses erklärt sich - im Frühsommer 2014 - für nicht zuständig, aber weil die Richter des 6. Senats gerade so nett beieinander sitzen, entscheiden sie dann halt doch, dass - Trommelwirbel - das Verwaltungsgericht Stuttgart zuständig ist!

Die Schockstarre der Stuttgarter Verwaltungsrichter ob dieses unerwarteten und wohl auch unerwünschten Urteils ihrer Leipziger Vorgesetzten hält an bis zu jenem 21.10.2014, an dem das Polizeipräsidium die weiße Fahne schwenkt. Die 5. Kammer ist aus dem Schneider: Der Berichterstatter muss nur noch anstelle der Kammer ein Anerkenntnisurteil ohne mündliche Verhandlung fällen, alle Ungereimtheiten des Verfahrens bleiben ungereimt und dem Rechtsstaat ist genüge getan.


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